Geleitwort

Wandlung

 

 

Geleitwort

 

Wandlung lautet das übergeordnete Thema der diesjährigen vierzehn Abendmusikprogramme Wandlung ist ein grosses Wort. Der antike, vorsokratische Philosoph Heraklit erblickte in dem sich in ewiger Wandlung begriffenen Feuer das ursprüngliche Wesen des Kosmos, und der Lübecker Lyriker Emanuel Geibel sah in der Wandlung das Geheimnis der Welt:
«Wandlung ist das Geheimnis der Welt. In steter Entfaltung/ Unabsehlich gestuft, bildet das Leben sich aus.»

In ihm steckt nicht allein der Gedanke des Wechsels, der Variation, des Weiterschreitens und der Innovation, sondern vor allem das Bild der Vielfalt. Wandlung muss als das eigentliche Wesen der abendländischen Musik verstanden werden. Bereits in den frühesten Choral­ bearbeitungen und seither in beinahe sämtlichen musikalischen Formen und Kompositions­ konzepten bildet die Wandlung, also die Idee des Variierens, der Improvisation, der kreativen Umformung, Neugestaltung und Ableitung von Melodien, Harmonien, Bass­ oder Klangfolgen den Kern (fast) jeglichen Musikschaffens.

Zwei ebenso revolutionäre wie richtungsweisende Werke, György Ligetis «Volumina» aus dem Jahre 1962, und eine vierhändige Orgelfassung von Stravinskijs «Sacre du printemps» rahmen den historisch und stilistisch weitgespannten Zyklus ein. Von Giovanni Gabrielis festlichen Canzonen zu John Cages «Organ2/ASLSP» – vom Komponisten insgesamt auf 639 Jahre Spieldauer hochgerechnet – bis hin zur Uraufführung von «Steinwandsand» schlägt der Zyklus der diesjährigen Abendmusiken einen einzigartigen Bogen an denkbaren Wandlungen.
Begleitet werden die ersten Konzerte im Münster durch Bill Violas Passions, eine Ausstellung des Kunstmuseums Bern in Zusammenarbeit mit der Münstergemeinde Bern. Bill Violas Werk setzt sich mit den Wandlungen spiritueller Themen und kirchlicher Rituale auseinander. Wandlung erinnert schliesslich auch an die liturgische «Transsubstantiation», die geheimnisvolle Verwandlung von Brot und Wein im Abendmahl in Leib und Blut Christi. Auf diese Weise verbinden sich spirituelle, liturgische, kosmische und poetische Wandlungsbilder mit beinahe achtzig musikalischen Wandlungen aus über vier Jahrhunderten – welch eine Fülle im 102. Zyklus der Abendmusiken im Berner Münster.

 

Hanspeter Renggli | Präsident